Nicht nur kalte Güsse
Das ganzheitliche Heilverfahren von Pfarrer Sebastian Kneipp ist nach mehr als 100 Jahren wieder „in“. Es fußt auf den fünf Säulen Wasser, Bewegung, Ernährung, Heilplanzen und Balance.
Ein Bericht der Pool-Reporterin Ulla Robbe, die vor Ort im Bad Wörishofen war.
So ein Glück: Im Kneippianum werde ich nicht etwa mit einem kalten Schlauchgenuss begrüßt, weil ich erst um 22 Uhr anreise, sondern mit einem köstlichen Brokkoli-Grünkernbratling an würziger Zwiebelsauce.
„Ernährung“ ist also die erste Kneippsche Säule, die ich in dem Kneipp- und Naturheilzentrum kennenlerne. Aber vorher traf ich Sebastian Kneipp: Im Empfangsbereich dominiert ein fast lebensgroßes Gemälde, auf dem der Pfarrer abgebildet ist – nicht etwa mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit einer Zigarre in der Hand und wohlbeleibt.
Kneipp war alles andere als genussfeindlich, nur soll nach der Kneippschen Lehre alles in vernünftigem Maße konsumiert werden. Während ich so zu ihm hochschaue und das Gefühl habe, er zwinkert mir zu und heißt mich willkommen, fallen mir alle meine kleinen Sünden ein, die der Gesundheit wenig zuträglich waren. „Fressen und saufen wollen die alle, aber sterben will keiner“, höre ich Sebastian Kneipp schmunzelnd sagen. Kneipp riet grundsätzlich ab von „zu viel, zu fett, zu süß und zu salzig“.
Er propagierte natürliche, vollwertige Ernährung mit reichlich pflanzlicher Frischkost möglichst aus der Region. „Essen ist Lust“, betont Christiane-Maria Rapp, Leiterin der Kneippschen Stiftungen in Bad Wörishofen. „Wir wollen gesunde Ernährung lustvoll promoten.“ Statt Kaffee empfiehlt die Expertin den Kneippschen Malzkaffee. Der schmeckt wirklich gut, aber als mir im Kurhaus ein „Kneippscher Espresso“ angeboten wird, bin ich völlig überrascht, dass dieser mit Kaffee schier gar nichts zu tun hat.
In Bad Wörishofen versteht man darunter ein kaltes Armbad, das wahre Wunder wirkt gegen Ermüdung, Abgeschlagenheit und Erschöpfung. So mache ich meine erste Erfahrung mit der bekanntesten Kneippschen Säule. „Das Wasser ist mein bester Freund und wird es bleiben, bis ich sterbe“, flüstert Pfarrer Kneipp mir ins Ohr, als ich beide Arme für 30 Sekunden bis Mitte Oberarm in das zwölf Grad kalte Wasser eintauche. Kneipp heilte sich selbst durch eiskalte Bäder in der Donau, als er zu Studienzeiten an TBC erkrankt war.
Bewegung ist wichtig
In der Münchner Hofbibliothek hatte er das Büchlein über „Krafft und Würckung des frischen Wassers“ des schlesischen Arztes Johann Siegmund Hahn aus dem Jahr 1749 entdeckt. Kneipp, der in der dritten Gymnasialklasse die Hälfte der Zeit im Bett zubringen musste, wurde wieder gesund.
Sein Geld hat Kneipp in seine Gründungshäuser – Sebastianeum, Kinderasyl, Kneippianum – gesteckt, die er schon vor seinem Tod an den Orden der Barmherzigen Brüder übergab – „eine Truppe gut aussehender Männer mittleren Alters mit Kutten und Laptops“, wie Kurdirektor Alexander von Hohenegg bei meinem späteren Besuch in der Kurverwaltung aus dem Nähkästchen plaudert. „Sie sollten sich viel bewegen“ rät mir Jochen Reisberger, Leiter des Kneipp-SPAs, „das stärkt Muskulatur und Kreislauf und erhöht den Stoffwechsel.
Wer zehn Stunden täglich am Schreibtisch sitzt, leidet fast immer unter Darmträgheit.“ Jetzt sind wir bei der dritten Säule, der Bewegung. Da nach Kneipp niemals kaltes Wasser an einem kalten Körper angewendet werden darf, ließ er seine Patienten zum warm werden vor den Güssen Holz hacken. Gegen verspannte Muskeln nach dem Sport werden in Bad Wörishofen heiße Heublumensäcke aufgelegt. Diese gelten als „Schmerzmittel der Naturheilkunde“.
Heilpflanzen sind die vierte Kneippsche Säule. In seinem 1886 erschienenen Besteller „Meine Wasserkur“ beschrieb Kneipp im Kapitel „Apotheke“ über 60 Kräuter und Mineralien zur Bereitung von Tees, Tinkturen, Pulvern und Ölen. Auch im Kräutergarten ist Kneipp präsent: „Vergesst mir die Seele nicht“, höre ich ihn sagen. „Ich konnte den Menschen erst helfen, als ich Ordnung in ihre Seele gebracht hatte.“
Die fünfte Säule – die Balance – ist aktueller denn je, man denke beispielsweise an den sprunghaften Anstieg der Burn-out-Erkrankungen. Und auch wenn ein kalter Guss eher etwas für harte Kneippianer ist und nichts für Weicheier und Warmduscher: Die Kneippsche Philosophie ist hochaktuell. Und nachhaltig, denn der Geist nimmt sie mit nach Hause. Das stelle ich nach meiner Rückkehr fest, als ich mich am Schreibtisch plötzlich beobachtet fühle.
Nanu, Herr Kneipp – was machen Sie denn hier? „Du solltest Dich mehr bewegen. Zehn Stunden sitzen am Tag sind zuviel.“ Erschrocken fahre ich den PC herunter, ziehe mich um und verlasse das Haus.
Weitere Informationen: www.bad-woerishofen.de